Lieber Herr Kantor!
Schon wenn der erste Orgel-Ton erklingt, stehen wir dankbar vor den Sitzen. In der Oper müssen Sänger und Orchester für dieses Standig Ovation zwei (Verdi) bis fünf (Wagner) Stunden "kämpfen". Andachtsvoll knie ich am Ende der Messe beim Nachspiel nieder und hoffe, der Moment, wenn das Kirchenvolk die letzten sanften Töne niederquasselt kommt noch lange nicht. Aus vollem Herzen singen wir das zukunftsweisende Lied: "Ihr Kinderlein kommet" (GL 804), weil es der Demografie gut tut. (Viele Kinder stressen den einen entnervten Opa). Ja, wir singen für Sie auch solche Stuss-Zeilen, wie: "Aus Gestein und Wüstensand werden frische Wasser fließen" (GL 106) und freuen uns auf das entstehende Urlaubsparadies "Wüste Gobi" mit Palmen, Seen, Hotels und lustigen Wasserspielen. Selbst wenn Sie das Lied 105 anstimmen singen wir aus vollem Herzen: "Ihr Wolken brecht und regnet aus". Das es als Folge den ganzen Urlaub wie aus Eimern geschüttet, wir 3 Wochen lang nur im Hotelzimmer gesessen und nichts aber auch gar nichts gesehen haben, stört uns wirklich überhaupt nicht. Wir werden das Lied 105 auch im nächsten Jahr wieder zu ihrer Orgel trällern, ohne ein bitteres Gefühl im Bauch zu haben. Ja, Sie haben es sogar geschafft, dass die bezaubernd schöne und so elegant gestylte Blondine, auf die sich leider mehr Blicke richten, als in den Altarraum, laut und deutlich singt: "Ach wie nichtig, ach wie flüchtig ist der Menschen Schönheit. Wie ein Blümchen bald vergehet, ... so ist unsre Schönheit, sehet." (GL 657). Ergriffen, fast den Tränen nah, brummen wir "O Haupt voll Blut und Wunden" (GL 179) und hoffen flehentlich, dass Sie immer heil und ohne sich den Kopf zu stoßen, den schmalen und niedrigen Treppenaufgang zur Empore hochkommen. Seit einigen Wochen sind Sie unser Lehrmeister. Wir dürfen (als Labor-Kirchen-Mäuse) aus dem neuen Probeexemplar des GGB lernen. GGB heißt nicht "Gemeinde gibt Bestes", sondern "Gesang- und Gebet-Buch". Wir kennen den Vorgänger noch unter dem Namen Gotteslob. Doch, wie die politisch heiß diskutierte Europäische Verfassung ohne Gottesbezug in der Präambel auskommen möchte, tut es unser neues Gesang- und Gebet-Buch zunächst auch. Der Arbeits-Titel ist so fade, als hieße ein Buch mit dem schönen Titel: "Mediterrane Delikatessen" bald nur noch "Koch- und Backbuch". Zum Glück wird das fertige Exemplar dann wieder auf den Namen Gotteslob getauft. Unterm Ihrer Unterweisung lernen wir jedes Lied und sieht es vom Notenbild her noch so verrückt aus. Immer wieder bin ich erstaunt, welche Notenkonstrukte man unfallfrei singen und spielen kann. Es ist schön, unter verändertem politischen Vorzeichen wieder Musikunterricht zu haben. Während man uns früher im pädagogischen Gleichschritt mit dem Lied "Wann wir schreiten Seit an Seit" die Richtung zeigte, dürfen wir heute aus vollem Herzen zu unserer Unwissenheit stehen. "Gottes Stern, leuchte uns!" Jüngst lernten wir ein neues Lied mit einer Melodie nach Josef Schnabel (1776 -1831). Gut, das Lied hätte auch schon vor 100 Jahren im Gotteslob stehen können, aber dann wäre es jetzt nicht mehr neu für uns.