Wo ist Gott?
Glaube kontra Philosophie
Prolog
Mit schlürfendem Schritt zog der magere Diener Stühle in die alte Bibliothek. Sein Frack hatte auch schon bessere Tage erlebt. Das edle Nussbaumholz der Sitzgelegenheiten jedoch war wuchtig und barock gearbeitet, Rückenlehne und Sitz mit dunkelrotem Samt bezogen. Vorsichtig stellte er 1die sechs Stühle in einen Kreis, staubte jede Sitzfläche mit einem weißen Lappen ab und polierte das Holz. Andächtig blickte er dabei auf die vielen Bücher, die dicht an dicht gedrängt in den ornamentverspielten Regalen das gesamte Wissen aus Jahrhunderten verwalteten. Vorsichtig, mit weißen Handschuhen und hochachtungsvollen Gesten blätterte der dürre Mann in den alten lignin-vergilbten Buchseiten. Die Frakturschrift versuchte ihn in eine Gedankenwelt einzuführen, die ihm vollkommen fremd war. Sonnenlicht zeichnete das geschwungene Fensterkreuz auf den frisch gewachsten Parkettfußboden, der unter jedem Schritt des Bediensteten leise seufzte. Eine erwartungsvolle Stille lag in der Luft des alten Büchersaales. Hinter dem barocken Fenster polterten die Holzräder der Kutschen über das harte Straßenpflaster. Das Schlagwerk einer alten Standuhr unterbrach die Stille und beflissentlich stellte der magere Diener das schwere Buch, in dem er eben noch geblättert hatte in den Schrank zurück. Fast automatisch griff seine rechte Hand zum Stehkragen und überprüfte, ob der Querbinder den richtigen Sitz hatte. Nicht mehr schlürfend, sondern vornehm schwebend schritt der dürre Diener zur schweren Holztür, öffnete sie, stellte sich neben den Türpfosten und empfing die fünf vornehm gekleideten Herren mit einem tiefen Bückling.
Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer, Karl Marx, Friedrich Nietzsche sowie der Arzt und Psychologe Sigmund Freud traten in den ehrwürdigen Saal, blickten sich den reichen Buchbestand der Bibliothek kurz an, nickten zufrieden und setzten sich mit der Würde eines Hochgelehrten auf die edlen Stühle. Ein Stuhl war unbesetzt. Die Herren blickten mit Unverständnis auf den leeren Stuhl, schüttelten ihre Köpfe, sahen sich fragend an, richteten ihren Blick zu Eingangstür, neben der immer noch der alte Diener stand, blickten sich wieder an und widmeten ihre ganze Aufmerksamkeit erneut dem leeren Stuhl.
„Wo ist Gott?“, fragte einer der Herren.
„Wir haben ihn doch eingeladen in unsere Runde!“, sagte ein anderer Herr fast wütend.
„Ja, hier hätte er sich rechtfertigen und mit uns diskutieren können“, warf der Dritte ein.
Und der Vierte fragte hämisch: „Wir haben ihn eingeladen. Aber haben wir ihn wirklich erwartet?“
Ein allgemeines, fast kindliches Kichern folgte.
„Gut, dann beginnen wir eben mit unseren Gesprächen über (den leider nun abwesenden) Gott!“
„Haben die Herren noch einen Wunsch?“, mischte sich der Diener unterwürfig in das Gespräch ein. Dabei achtete er peinlich darauf, nicht aufdringlich zu wirken. Einer der Philosophen kraulte sich seinen dichten Vollbart, so als überlegte er, sah auf den leeren Stuhl, wandte sich dem hageren Diener zu und begann langsam herantastend: „Wenn nun unser Gast nicht gekommen ist, weil er wegen möglicher Nichtexistenz vielleicht gar nicht kommen konnte und sie meine Herren nichts dagegen haben, schlage ich vor, den leeren Stuhl diesem Herrn anzubieten“. Dabei zeigte er auf den Diener, der vor Schreck gleich zusammenfuhr.
„Ja, vielleicht macht es unser Gespräch interessanter, wenn er …“ Der Philosoph unterbrach und fragte: „… sind sie Atheist?“ Der Diener schüttelte den Kopf. „Oder Christ?“ Nun sah er den weisen Mann mit gutmütigen Augen an. „Aha, sie sind ein suchender Christ!“, schlussfolgerte der Philosoph messerscharf und erhielt ein zaghaftes Nicken zur Antwort. „Gut, mein Freund“, sagte der Gelehrte fast erleichtert: „dann kommen sie in unsere Runde. Vielleicht können wir ihr Weltbild etwas zurechtrücken!“ Unsicher setzte sich der Diener auf den weichen Stuhl und nahm die ihm anerzogene kerzengrade Sitzhaltung ein. Sein unsicherer Blick streifte die vielen Buchrücken. Die schwere Eingangstür blieb verschlossen.
1. Bild: In der Bibliothek
Nervös kreisten die Blicke des Bediensteten die Bücherregale ab. Er fühlte sich unwohl in der Runde, verstand die Größe der hitzig geführten Diskussion nicht. Doch unterbrechen wollte er die Herren auch nicht. Das machte man nicht. Und er, als geistig Unterlegener in der Runde sowieso nicht. Also ertrug er es, wie die Worte bedeutungslos an ihm vorbeirauschten.
Marx
Plötzlich merkte der Diener, wie Marx ihn interessiert ansah. Schon die ganze Zeit rieb Marx an seinen Sachen. Eine Hautkrankheit machte ihm seit Jahren zu schaffen. Der Bedienstete fühlte sich beobachtet und senkte seinen Kopf. Doch Marx wendete seinen Blick nicht ab und fragte: „Wie billig müssen sie eigentlich ihre Arbeitskraft verkaufen?“
Der Diener verstand nicht. Marx hakte nach: „Geht es ihnen besser, als ihrem Herren?“ Der Diener wagte nicht, seinen Kopf zu schütteln. Doch der Bärtige verstand und sagte: „Gott wird ihnen leider auch nicht aus ihrer Misere helfen können. Religion ist nur ein Opium des armen Volkes.“ Marx wurde lauter: „Es sind Träumereien und Verströstung ins Jenseits. Der Glaube ist von Menschen gemacht, ist eine Illusion. Von daher kommt kein Trost. Religion ist Mystifikation der Welt. Glaube ist das Produkt des menschlichen Kopfes. Welch ein Elend! Das religiöse Elend ist nur Ausdruck des wirklichen Elendes, der Seufzer der hilflosen Kreatur. Der Mensch kann sich nur selber helfen.“
Der Angesprochene nickte, obwohl er Marx Gedanken noch sortieren musste. Zaghaft, in einem sich fast entschuldigendem Tonfall fragte er: „Soll das heißen, dass sich alle Menschen Gott nur einbilden? Ist es nur ein Gott der Gedanken?“
Freud
„Sehen sie es bitte auch psychologisch!“, warf Sigmund Freud ein. Mit vertrauenserweckender Mimik sah der Psychologe den Diener an. Er wusste, wie man mit Menschen umging, er, der Tiefenpsychologe und Begründer der Psychoanalyse. Durch seine Brillengläser sah er den Diener freundlich an. Das Sprechen bereitete ihm heute leichte Schwierigkeiten. Wieder hatte er eine der vielen Operationen über sich ergehen lassen müssen, um seinen Gaumenkrebs zu heilen.
„Sehen sie es bitte auch psychologisch!“, wiederholte Freud und erklärte: „Denken sie an ihren Vater! Sie waren Kind und schutzbedürftig. Und doch haben sie ihren Vater sicher auch gefürchtet. Diese Ambivalenz setzt sich nun fort. Sie suchen den Schutz, den ihnen ihr Vater nicht mehr geben kann, in Gott. Und trotzdem fürchten sie ihn. Gott ist die vom Menschen personalisierte Naturkraft. Religion ist der infantile Abwehrmechanismus gegen die menschliche Unterlegenheit. Verstehen sie? Der Mensch braucht Autoritäten, denen man sich beugt, die man bewundert. Der Mensch ist primitiv und infantil. Er wird immer eine Instanz brauchen, die er Gott nennt, besonders, wenn der eigene Vater nicht mehr zur Verfügung steht! Fragen sie doch Herrn Feuerbach. Er war mein gedanklicher Wegbereiter. Er hat es philosophisch gesehen, ich sehe es durch die Brille der Psychologie.“
Feuerbach
Ludwig Feuerbach blickte Freud dankbar und voller Befriedigung an. Diese Worte taten ihm gut. Vor wenigen Wochen musste er von Bruckberg nach Rechenberg bei Nürnberg ziehen. Seine Porzellanfabrik war bankrott. Er und seine Frau lebten von finanziellen Zuwendungen seiner Freunde. „Lieber Freund!“, begann er: „Glaube ist schlicht und ergreifend Unsinn. Der Geist muss sich aus der drückenden Herrschaft der Religion befreien. Ich teile auch Hegels Meinung nicht, dass Glaube und Philosophie übereinstimmen. Der Glaube ist an sich eines Menschen unwürdig. Er hat sich überlebt.“ Feuerbach sah in das fragende Gesicht des Dieners und erklärte: „Ich habe versucht, die Geheimnisse des Glaubens anthropologisch zu deuten: Religion ist eine illustrative Erklärung der Eigenschaften von Menschen. Heißt es also in der Bibel: „Gott liebt den Menschen“ so bedeutet es lediglich: Die Liebe der Menschen untereinander ist das wichtigste! Daraus ziehe ich den Schluss, dass Gott lediglich Spiegelbild des Menschlichen ist.“
„Und das Leben nach dem Tod?“, fragte der Diener. Ist das auch nur Märchen?“ Feuerbach fand Gefallen an dem armen Menschen, der sich geduldig die Gedankenwelten der Schlauen anhörte, auch wenn ihm dabei oft unbehaglich wurde. Hoffte er doch auf etwas Höheres, dass diese Welt bestimmte, etwas, dass die Philosophen jetzt nicht nur töteten, sondern auch zerfledderten.
„Vergessen sie den Unsterblichkeitsglauben!“, fuhr Feuerbach leidenschaftlich fort. „Ein Leben nach dem Tod widerspricht allen natürlichen Gesetzen. Der Tod ist das ultimative Ende, ist die Auflösung des Lebens. Der Tod muss vom Menschen akzeptiert werden, ohne die angebliche Hintertür des Weiterlebens.“
Nietzsche
„Gott ist tot!“, mischte sich nun Friedrich Nietzsche in das Gespräch ein. Seine schwachen Augen blickten dabei düster. Immer mehr kehrten sich Nietzsches Freunde von ihm und seinen Gedanken ab. Den vierten Teil des „Zarathustra“ musste er auf eigene Kosten herausgeben. 40.000 Exemplare hatte er drucken lassen, wollte sie Menschen schenken, die er des Werkes für würdig erachtete. Sieben Bücher hatte er nur verschenken können.
„Gott oder Unsterblichkeit oder Jenseits sind für mich vollkommen unbedeutende Begriffe.“, sagte Nietzsche dem Diener. Und fast traurig ergänzte er: „Denn Gott ist tot.“ Er machte eine Pause. Dann wurde er lauter, leidenschaftlicher: „Und wir ...“, ergänzte er: „wir haben ihn getötet! Wie trösten wir Mörder uns nun, wir Mörder, die sich Christentum nennen? Jesus, der frohe Botschafter, starb, wie er lebte. Er wollte die Menschen nicht erlösen, sondern ihnen zeigen, wie man richtig lebt. Und das Christentum hat daraus eine Mitleidsreligion gemacht. Gott als Krankengott, als Spinne, als Geist. Das Christentum hat die einzig dem Menschen geschenkte (irdische) Welt zu einem Jammertal gemacht. Das Mitleid mit dem Schwachen, Niedrigen steht im Widerspruch zu den Erhaltungsinstinkten des Lebens. Die Kirche hat aus jedem Wert einen Unwert gemacht. Deshalb klage ich es mit den furchtbarsten Anklagen, die es gibt, an!“ Erschrocken blickte der Diener den recht jungen Philosophen mit dem markanten Oberlippenbart an. Wie mit einem Hammer zertrümmerte Nietzsche alles Christliche. Seine Sprache, die so radikal war, ängstigte ihn. Doch der Christentums-Hasser redete, wie von Ekstase befallen weiter: „Da die Götter tot sind tritt an dessen Stelle ein neuer Mensch, ein Mensch, der den Tod Gottes akzeptiert und fest mit der Erde verbunden und stark ist. Das sogenannte Jenseits und die Vertröstungen darauf sind nihilistisch und lebensfeindlich. Es zerstört die diese Welt bejahenden Kräfte.“ Nietzsche lehnte sich wieder zurück.
Schopenhauer
Schweigend hatte einer bis jetzt zugehört. Immer wieder wanderten seine Blicke zu dem alten Spinett, das abgedeckt in einer Ecke stand. Zu gerne hätte er das weiße Tuch weggenommen. Schopenhauer hatte gerade seinen Umzug ins Nachbarhaus Schöne Aussicht 16 am Mainufer geschafft. 55 Jahre wohnte er möbliert zur Untermiete, war dann in Haus 17 gezogen. Doch die jahrelangen Anfeindungen der Mitmenschen, wegen seines geliebten Pudels, wollte und konnte er nicht mehr ertragen.
„Die Welt ist Produkt blinden und grundlosen Willens.“, begann Schopenhauer. „Sie ist schlecht und ein Jammertal. Das Leben ist nicht lebenswert. Die Zeit ist ein unendlicher Kreis. Wie soll es dort einen Gott geben, der die Welt erschaffen hat, wenn es keinen Anfang gibt. Und wenn ich mir das schmerzvolle Dasein auf dieser Welt ansehe, wie soll ich da an einen guten Gott glauben. Kann denn ein gütiger Gott eine so leidvolle Welt erschaffen? Und wenn der Mensch eine Lösung aus dem Leid findet, braucht er dann noch einen Gott? Das Einzige, was das Leid auf dieser Welt etwas erträglicher machen kann, ist die Kunst, ist die Musik. Die Kunst ist das einzige, wofür sich das Dasein in dieser Welt lohnt.“ Schopenhauer blickte in die Runde, senkte seinen Kopf und sagte: „Aber heute wollten wir uns ja nicht über Kunst, sondern über Gott unterhalten.“
Die Sonne spielte nicht mehr mit dem Fensterkreuzschatten auf dem Parkettfußboden. Hinter einer grauen Wolke verbarg sie sich. Es wurde dunkler in der alten Bibliothek. Die goldgeprägten Buchrücken in den Regalen verloren an Glanz. Bücher: die Hüter des Wissens. Geradezu vollgestopft wurde der dürre Diener mit Selbigem. Sein Kopf drohte zu zerplatzen. Doch schlimmer als die Kopfschmerzen waren die Schmerzen in seinem Herzen. Hatte er nicht versucht, irgendwie seinen kindlichen Gottesglauben in sein Leben hinüberzuretten, auch wenn er ihn nicht praktizierend lebte? Voller Angst, betrachtete er die schlauen Philosophen. Was hatte er ihren ausgereiften Gedanken entgegenzusetzen? Ihm wurde kühl, glaubte er doch, dass die fünf Herren mit ihren messerscharfen Worten etwas in seiner Seele amputieren würden. Mit einer noblen Geste verabschiedeten sich die Fünf von dem Verunsicherten. Er deutete in ihren Gesichtern fast Mitleid, dass er, der einfache Mensch ihnen und ihrem Geistesgut nur so begrenzt folgen konnte. Dass sie aus seinem Herzen gerade Gott herausgeschnitten hatten, störte sie wohl weniger. Vielleicht empfanden sie sogar eine gewisse Genugtuung, wieder jemanden zum Nachdenken bewegt zu haben. Nun stand der Diener wieder alleine neben den vielen Büchern. Blätterte er ihn ihnen vor wenigen Stunden noch ehrfurchtsvoll, so konnten sie ihm jetzt in seiner Situation nicht weiterhelfen. Doch vielleicht wäre Gott in der Kirche nebenan zu finden. Womöglich gab es dort andere Antworten als hier in der Welt des Wissens. Er zog sich seinen langen, etwas abgetragenen Mantel an. Der schwere Schlüssel verriegelte die Tür zur Bibliothek.
Pferdekutschen polterten über das krumme Straßenpflaster. Kinder spielten unbekümmert, vornehme Damen mit breitem Reifrock schlenderten neben ihren nobel gekleideten Ehemännern gemütlich über den Marktplatz, Dienstboten verschwanden eifrig hinter den Fassaden der schiefen Häuser. Es ging lebhaft zu in der kleinen Stadt. Doch davon keine Kenntnis nehmend lief der Diener über den Platz, direkt in den wuchtigen Sakralbau
2. Bild: In der Kirche
Kerzen leuchteten die alte Kirche aus. Der Lärm der Welt, das hitzige Diskutieren der Philosophen, das alles verschluckte eine feierliche Ruhe. War das Gott? Der Gott, der zum philosophischen Disput in der Bibliothek nicht erschienen war, um sich zu rechtfertigen? Fast fühlte der von den Denkern Verunsicherte einen göttlichen Gleichmut, so als sage der Allerhöchste mit großer Gelassenheit: „Lass sie sich doch gegenseitig die Welt erklären, oder das, was sie davon begriffen zu haben glauben! Es sind doch nur Bruchstücke, die der ganzen Dimension nicht gerecht werden. Warum soll ich da mitdiskutieren?“ Oder hatte doch Freud Recht, dass Gottesglaube nur die Suche nach Autoritäten sei?
Menschen saßen in den Kirchenbänken oder knieten. Ihre Blicke richteten sich auf das Kreuz. Fand hier das Leben des, wie Nietzsche sagte, „frohen Botschafters“ ein grausames und auch endgültiges Ende? Oder hing hier nur „ein Spiegelbild des Menschen“, wie Feuerbach glaubte? Warten die Leute hier nur auf die Orgelmusik, die etwas Frohsinn in dieses „schmerzvolle Dasein“ bringen sollte, so wie Schopenhauer es ausgedrückt hatte? Oder gingen die Betenden hier nur ihren Träumereien nach, dem „Opium“, wie Marx meinte? Der Diener konnte es nicht entscheiden. Doch nach all den Worten und Gegenworten in der Bibliothek tat ihm die Ruhe gut. Er setzte sich.
Foucault
Charles de Foucault leierte einen Rosenkranz durch seine Finger. Leise bewegten sich seine Lippen zum Ave Maria. Er betete. Foucault stand kurz davor, Europa endgültig zu verlassen. Einer Einladung des Generals Laperrine folgend, sollte er nach Südalgerien gehen. Als Priester pflegte er dort guten Kontakt zu den einheimischen Tuaregs und den französischen Soldaten, deren Seelsorger er war. Als Einsiedler lebte er oft zurückgezogen und einfach. Welche eine Entwicklung nahm sein Leben! Früher war er der reiche, verwöhnte Jugendliche, dessen Lebensinhalt aus Ess- und Trinkorgien bestand, der seinen Reichtum voll auskostete. Der junge Foucault hatte damals jeglichen Glauben an Gott und die Kirche verloren. In den kommenden Jahren sollte er Gott wiederfinden. Seine freiwillig angenommene Armut als Priester in einem fremden Kulturkreis, schien so ganz den Marxschen Theorien zu widersprechen. Religion, als Trost des armen Volkes? Wie ließ sich de Foucault in diese Erkenntnis einordnen, ein einst Reicher, der das ärmere Leben freiwillig gewählt hat und dies dann auch als seinen Weg empfand, den er gehen wollte.
Gonxha
Der Blick des Bediensteten fiel auf eine alte Frau. Ihr schmächtiger Körper konnte den weißblauen Sari kaum ausfüllen. Sie, Agnes Gonxha, hatte gerade den Friedensnobelpreis bekommen, einen Preis, der ihr hohe internationale Ehre einbrachte. Agnes Gonxha wuchs, wie Charles de Foucault in wohlhabenden Verhältnissen auf. Ihr Vater starb früh. Gonxha hegte bald den Wunsch in ein Kloster zu gehen. Aha, dachte sich der Diener. Hier hatte Freud doch Recht: kleines Mädchen, Vater früh gestorben, die Suche nach Schutzbedürftigkeit brachte sie in das Kloster. Und gleich krauelte sich der Diener sein mit Pomade getränktes Haar. Denn Gonxhas Lebenswerk sollte so gar nicht zu dieser Einschätzung passen. Zeit ihres Lebens kümmerte sie sich um Leprakranke, baute Leprastationen und gründete schließlich den Orden „Missionarinnen der Nächstenliebe“. Als Mutter Teresa leitete sie den Orden über 40 Jahre. Nun gab Mutter Teresa selber Schutz einer stetig wachsenden Ordensgemeinschaft, war Oberin und Mutter der ihr anvertrauten Menschen gleichermaßen. Ihr Lebenswerk, das Weiterleben Leben tausender einst todgeweihter Leprakranken wäre wohl kaum der das Produkt von Freudscher Metapsychologie.
Forgione
Ein zarter, Lufthauch spielte mit den Kerzenflammen in der Kirche. Die schweren Mauern verschluckten allen Straßenlärm, die polternden Kutschen, die spielenden Kindern, ja selbst das Schlagwerk der Kirchturmuhr. Ab und zu knarrte das Eichenholz einer Kirchenbank; leise, so als wolle sie die Gebetsruhe nicht stören. „Ein Leben nach dem Tod widerspricht allen Gesetzen! Der Tod ist das ultimative Ende!“, hatte vor wenigen Stunden Feuerbach gesagt und sich dabei genüsslich seinen langen Bart gezupft. Doch welchen Gesetzen lagen die Wunden des Francesco Forgione zugrunde, Wunden, die seit mehr als 50 Jahren Hände, Brust und Füße zeichneten. Und wie konnte Forgione diese Schmerzen überhaupt aushalten? Lag es wirklich nur am Nervengift Veratrin, das schmerzunempfindlich machte und mit dem Forgione jahrelang Spritzen desinfizierte? Halbhandschuhe deckten die Wunden ab. Forgione (besser bekannt unter dem Namen Pio: Pater Pio) kniete am Altar und feierte die heilige Messe. Seine stigmatisierten Hände hielten die Hostie in die Höhe, den wahren Leib Christi, das eucharistische Geheimnis, dessen wissenschaftlichen Klärungen und Erklärungen seit Jahrhunderten an Grenzen stoßen, das aber den Auferstehungsglaube voraussetzt. Denn ohne den auferstandenen Jesus wäre eine Heilige Messe nichts weiter als Theater. Stigmata an den Händen. Können sie den einen Gott beweisen? Immanuel Kant war es, der Anselm von Canterburys „ontologischen Gottesbeweis“ für nicht schlüssig hielt. Jedoch gab es auch keinen Beweis für die Nichtexistenz Gottes. Und so war man darauf angewiesen, ob Gott Spuren zeichnete. Konnte man in Pater Pios Stigmata solche Spuren Gottes erkennen? Viele sahen und sehen göttliches Handeln in den medizinisch nicht restlos erklärbaren Wunden des Paters, die über Jahrzehnte bluteten und dann zum Ende seines Lebens plötzlich verschwanden. Innig sah Pater Pio die Hostie an, die er immer noch in seinen Händen hielt. Den Diener faszinierte es, wie der Weißbärtige dieses einfache runde ungesäuerten Weizenbrotes ansah und vorsichtig wieder in die goldene Schale zurücklegte. Gleiches tat er mit dem roten Messwein, der verwandelt wahres Blut Christi war. Dies konnte man nicht rational erfassen, es entzog sich allen Gedankenkonstrukten der Philosophie.
Vianney
Alle, auch ein schmächtiger Mann blickten auf die Hostie. Jean-Baptiste Vianney suchte in dieser Kirche Abstand von seiner Gemeinde in Ars. Es war nicht das erste Mal, dass er weggelaufen war und seine karge Behausung verlassen hatte. Zweifel, ob er ein guter Pfarrer war, quälten ihn zutiefst. Und immer wieder hatten die Bewohner von Ars ihren Pfarrer zurückgeholt. Im Februar 1818 übernahm er die Gemeinde Ars-sur-Formans bei Lyon. Die 240 Dorfbewohner zeichneten sich durch Gleichgültigkeit an allem Religiösen aus. Das sollte sich ändern. War die Kirche nun eine Mitleidsreligion, die eine dem Menschen geschenkte (irdische) Welt zu einem Jammertal gemacht, weil das Mitleid mit den Schwachen den Wert des Starken, den sogenannten „Übermenschen“ zu einem Unwert gemacht hat? Und der Pfarrer von Ars? Für Nietzsche verkörperte er sicherlich das (Be)-Mitleidenswerte. Latein zu lernen fiel ihm schwer. Die Pfarrstelle bekam er nur, weil seine Frömmigkeit den Bischof beeindruckte, nicht das theologische Wissen. Vianney lebte bescheiden, fast erbärmlich, doch die Leute kamen zu ihm, mit ihrer Schuld, ihren Problemen, den Sorgen, das was Nietzsche als „schwach“ bezeichnete. Die Menschen jedoch brauchten ihren bemitleidenswerten Pfarrer, weil er sie verstand, weil sie gestärkter nach Hause gehen konnten, die Welt dann als lebenswerter empfanden, die nicht mehr von den eigenen Sorgen verzerrt und vernebelt wurde. Scharenweise strömten die Menschen zu ihm, dem Pfarrer von Ars, wollten seine Predigten hören und bei ihm beichten. 14 Stunden saß er an manchen Tagen im Beichtstuhl bei den Menschen. Vianney würde später an Erschöpfung sterben, weil er mitlitt, mit den Menschen, so wie Jesus am Kreuz gelitten hatte, denn dieser Jesus war mehr, als nur der „frohe Botschafter“; der den Leuten sagte, wie sie leben sollten. Jesus lebte und litt mit ihnen. Genau das war der Unterschied zwischen dem philosophischen Christentum, das sich nur auf Gedanken aufbaute und dem lebendigen Christentum, das auch im Leid des Menschen noch Wege zeigte. Nietzsches „Übermenschtheorie“ jedoch bereitete in den dreißiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts den Nährboden für furchtbarstes menschliches und gesellschaftliches Scheitern.
Gajowniczek
Lange Zeit hatte der Diener nun in der Kirche verbracht. War Gott hier zu finden? Hier lernte er Menschen kennen, die eine ganz besondere Ausstrahlung hatten und einen ganz besonderen Weg gingen, einen Weg, der auf Vertrauen gebaut war und sich nicht durch Bibliotheken und Gedankenkonstrukte schlängelte. Leise stand der Diener auf, blickte das Kreuz an und ging zur Tür. Auf der letzten Kirchenbank kniete ein Mann, einsam und vertieft. Dieser Mann hatte Schlimmes erleben müssen, war im KZ gefangen und dem Tode durch Verhungern geweiht. Franzisec Gajowniczek hieß er und war Pole. Gajowniczek hatte das Jammertal kennen gelernt, von dem Schopenhauer philosophiert hat. Er musste blinden Hass ertragen, grundlosem Willen ausgesetzt sein und konnte keine Lösung finden aus dem Leid, dass die Nazis ihm bereiteten. Ihm half keine Kunst, keine Musik aus dem Jammertal Konzentrationslager, weil es das dort nicht gab. Gajowniczek war Familienvater und schon für den Hungerbunker ausgewählt. Dort wäre er gestorben, hätte nicht ein mutiger Mensch die KZ-Aufseher gebeten, für ihn in den Hungerbunker gehen zu dürfen. Dieser Mann, der sich für Gajowniczek geopfert hatte, war Priester, hieß Maximilian Kolbe. Kolbe wählte freiwillig das Jammertal, um einen Familienvater zu retten. Im Hungerbunker zelebrierte er Heilige Messen und munterte die Todeskandidaten auf. 14 (!) Tage später wurde er mit einer Spritze getötet. Keiner hätte gedacht, dass ein Mensch diese lange Zeit überleben würde. Woher nahm Kolbe die Kraft, dies zu tun? War es einfach Humanismus? Und Gott? Konnte denn ein gütiger Gott eine so leidvolle Welt erschaffen, eine Welt, die nur durch die Kunst zu ertragen ist, wie Schopenhauer es dachte? Kolbe, ein Priester, der an seine Auferstehung nach dem Tod glaubte, ertrug das Grausame, um Gajowniczek das Leben zu ermöglichen. Hätte Kolbe Schopenhauers Pessimismus und Weltverneinung geteilt, welche Motivation gab es dann, das Leben so wertvoll zu finden, dass sich sein tiefes Leiden gelohnt hat?
Der Diener sah den Geretteten an, der durch das freiwillige Leiden eines Anderen ein Leben geschenkt bekam und blickte zum Kreuz, an dem Jesus litt.
Epilog
Mit weißen Tüchern bedeckte der Diener nach und nach die Stühle in der Bibliothek. Was sollte er nun glauben? Gab es einen Gott oder nicht? Gut, keiner konnte ihn schlüssig beweisen, aber auch keiner widerlegen. Sollte er, der bescheidene Diener, nun abwägen? Würden die Einwände überwiegen, könne es tendenziell keinen Gott geben. Doch fände man mehr Fürsprecher, als Gegner, dann müsste ein Allmächtiger existieren. Sollte man nun alles Für und Wider abwiegen und sehen, in welche Richtung sich die Waage neigen würde? War es vernünftig, an Gott zu glauben, oder eher irrational? Wäre es unvernünftig zu glauben, würden viele es nicht tun. Denn wer ließe sich schon gerne als Idiot vor den Mitmenschen bezeichnen? Wie auch immer, auf diese Frage, sollte die Philosophie keine Antworten finden. Ein bewiesener Gott, sei es nun philosophisch oder mathematisch oder naturwissenschaftlich, würde nur noch eine von uns gedanklich verinnerlichte Formel, aber keine höhere Instanz mehr sein können.
Der Diener bedeckte den letzten Stuhl mit einem der weißen Tücher. Dann blies er die Kerzen aus. Nur eine ließ er noch brennen. Dieser Tag brachte ihm keine Antworten. Er musste Spuren suchen, die Spuren Gottes. Waren Pios Stigmata solche Spuren, oder Mutter Teresas Nächstenliebe? Waren es Gottes Spuren, die Foucault in ein völlig neues Leben führten, oder die renovierte Kirche von Ars? Wo gab es andere Spuren Gottes im Leben, Haltegriffe des Glaubens? In der Philosophie gewiss nicht. Aber vielleicht in den Menschen, die irgendwann mal für sich entschieden haben, Gott sei mehr als nur ein Gedankenkonstrukt? Langsam bemerkte der Diener, dass Gott in vielen Menschen existierte: in ihren Erfahrungen und in ihrer Größe, dort Hoffnung zu schenken, wo es dunkel wurde. Der Suchende begriff etwas von der Erhabenheit des Schöpfers, die sich in kein Buch pressen ließ und er hatte Menschen getroffen, dessen Lebensweg so radikal verändert wurde, dass es mit dem Raster der Wissenschaft oder Psychologie kaum zu vereinbaren war. Und so beschloss er, die Suche nach dem lebendigen, dem ihm zugewandten Gott zu beginnen.
Gerade wollte er das Licht löschen, als ein junger Lockenkopf in der Tür stand. „Kann ich mir eine Bibel ausleihen?“, fragte er. „Sind sie etwa auch Philosoph?“, erwiderte der Diener interessiert. Der junge Mann nickte. Es war Sören Kierkegaard. „So, sie wollen eine Bibel.“, wiederholte der Diener und fragte: „Dann gibt es wohl doch einen Gott?“ Kierkegaard überlegte kurz und sagte: „Wenn ich Gott begreifen könnte müsste ich nicht glauben. Doch da dies wohl nicht möglich sein wird, ihn zu begreifen, muss ich glauben“. Der Bedienstete gab Kierkegaard die Bibel und überließ Bibliothek und Bücher der hereinschleichenden Dunkelheit. Auf dem Weg in seine kleine Bodenkammer am anderen Ende des Städtchens blickte er in die Buntglasfenster der alten Kirche. Eine im Sakralbau entzündete Kerze spendete dem Fenster etwas Licht und zeichnete unaufdringlich die Konturen der Heiligenbilder in das Dunkel der kleinen Stadt.
Text: Henning Leisterer – 2014